Der Hausweg und das Griesheimer Haus
Heute ist der 6.6.2016 und gestern fand der Kreiswandertag statt. Diesmal in Griesheim. Normalerweise ist es ja der Wanderer, der wandert. Deshalb heißt er ja so. Und der Weg, auf dem er wandert (also der Wanderer), der bleibt an Ort und Stelle (also der Weg). Außerdem wandert der Wanderer einen Weg von A nach B, und die Distanz von A nach B ist meist größer als 0. Sonst würde das ganze Wandern ja keinen Sinn machen.
Aber in Griesheim gibt es einige Besonderheiten. Hier gibt es nämlich einen Weg, der selber gewandert ist. Und durch diese Wanderung verkürzte sich die Strecke von A nach B (oder genauer gesagt von Griesheim nach Darmstadt) von etwa sieben Kilometer auf null. Und das auch noch quer zum Weg…
Wie das geht, lesen Sie hier.
Die Rede ist vom Hausweg, eine Straße am nördlichen Rand der Siedlung St. Stephan, heute im Südosten von Griesheim gelegen. Im Osten beginnt er am St.-Stephans-Platz und führt nach Westen. Dort endet er am Ulmenweg. Im Gegensatz zu den übrigen Straßennamen der Umgebung, die größtenteils erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts benannt wurden, hat der Hausweg seinen Namen schon seit der Zeit kurz nach 1713.
Der Hausweg ist nämlich ursprünglich die kürzeste Verbindung zwischen dem Ort Griesheim und einem Jagdschloss im Wald zwischen Griesheim und Bessungen gewesen. Dieses Jagdschloss, bekannt geworden als „Griesheimer Haus“, war Teil der umfangreichen Jagd-Infrastruktur der Darmstädter Landgrafen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Rund um Darmstadt wurde ein Netz von schnurgeraden Schneisen in die Wälder geschlagen. Diese trafen sich sternförmig an bestimmten Punkten, an denen gerne kleine Pavillons oder etwas größere Jagdhäuser oder Jagdschlösser angelegt wurden. Das bekannteste aus dieser Reihe (wenn auch im Ursprung schon deutlich älter) ist das Schloss in Kranichstein.
Das Griesheimer Haus, auf das wir ein andermal genauer eingehen werden, wurde 1713 errichtet. Eine Abbildung des Gebäudes finden Sie hier (auch wenn diese Darstellung von einem Künstler geschaffen wurde, zu dessen Schaffenszeiten es das Haus gar nicht mehr gab…). 1736 ist es schon eingestürzt und wurde daher 1740 durch ein größeres mit dem Namen „Louisbourg“ ersetzt. Auch dieses stand nur relativ kurze Zeit, nämlich bis 1774. Dann brach man alles ab, und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde an gleicher Stelle ein offener Holzpavillon als Rastplatz für Wanderer errichtet. Dieser ist heute – wie die ganze Situation – nicht mehr erhalten, da die Autobahn 5 vom Darmstädter Kreuz Richtung Heidelberg das Gelände in einem Geländeeinschnitt durchzieht.
Man kann deshalb auch die sich sternförmig treffenden Schneisen nicht mehr erleben. Diese trugen (und tragen) Namen wie „Braunshardter Haus Schneise“. Dies war die Schneise die vom (Griesheimer) Haus Richtung Braunshardt führte. Die „Wixhäuser Haus Schneise“ führte analog nach Wixhausen. Und dann gab es noch einen Weg nach Griesheim, der allerdings nach kurzer Zeit den Wald verließ, und deshalb beim besten Willen nicht die Bezeichnung Schneise tragen konnte. Von Griesheim aus betrachtet erhielt er den Namen Hausweg, vom Griesheimer Haus aus betrachtet vielleicht „Griesheimer Haus Weg“. Letzteres ist in den historischen Karten so jedoch nie verzeichnet.
Der Hausweg machte nun einige Wandlungen mit. Zunächst ging ihm ja, wie schon gehört, mit dem Griesheimer Haus auch sein Zielpunkt verloren. Und dann begann eine Zeit der Veränderungen. Der Schießplatz im Südosten von Griesheim, der zum Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde, überlagerte den Weg nach einigem Wachstum irgendwann. Sicherlich war das Militärgelände umzäunt, so daß die Benutzung des Hausweges damit unmöglich wurde.
Im Westen wuchs Griesheim zur gleichen Zeit immer rascher. Ein einfaches Straßensystem mit einigermaßen parallelen oder sich rechtwinklig kreuzenden Straßen wurde in den neuen Ortsteilen geschaffen. Es entstanden Straßenzüge wie die heutige August-Bebel-Straße, die Friedrich-Ebert-Straße und sehr viel später die Odenwaldstraße und die Lindenstraße. Dabei gab man den Hausweg stückweise auf, dessen Trassenführung ja diagonal zum neuen Straßennetz in den alten Ortskern geführt hatte. Hätte man ihn beibehalten, wären zahlreiche dreieckige Grundstücke entstanden, die sicherlich für die Benutzung und Bebaubarkeit eher suboptimal sind.
So verkürzte sich das westliche Ende immer mehr, das östliche lag am Zaun des Militärplatzes. 1914 begann der Erste Weltkrieg, und in Vorbereitung dazu wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Schießplatz nochmals drastisch erweitert. Es entstanden weitere Barackenanlagen, auch auf der Trasse des alten „Hausweges“. Dieser wurde damals umgeleitet und verlief nun am nördlichen Rand des westlichen Barackenlagers in Ost-West-Richtung. Während alle anderen Abschnitte des Hausweges heute nicht mehr existent sind, erhielt sich für dieses „verschobene“ Stück Weg der Name bis in die heutige Zeit – obwohl dieser Wegeverlauf mit dem historischen Wegeverlauf eigentlich nichts zu hat.
Im Jahr 1937 wurden sämtliche militärischen Flächen in Griesheim, also auch der alte Schießplatz und die Flächen der Barackenlager des Ersten Weltkrieges, nach Darmstadt umgemeindet. Der (neue) Hausweg wurde damit zur Grenze zwischen beiden Kommunen. Dies wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst so beibehalten. Statt der militärischen Nutzung legte die Stadt Darnstadt auf ihrem Gebiet die Siedlung „St. Stephan“, hauptsächlich für vertriebene Donauschwaben, an. Die Bebauung der Siedlung umfasste nach schnellem Wachstum auch irgendwann die südliche Straßenseite des Hausweges. Gleichzeitig war Griesheim von Nordwesten her herangewachsen. Die nördliche Straßenseite wurde mit Griesheimer Häusern bebaut. Im Hausweg war es also möglich geworden, beim Wechsel der Straßenseite von einer Stadt zur anderen zu wechseln – ein denkbar kurzer Weg.
Erst bei der Umgemeindung der Siedlung St. Stephan 1977 ist dieses Kuriosum, das z.B. dazu geführt hatte, dass die beiden Straßenseiten an verschieden Tagen von zwei verschiedenen Müllabfuhren angefahren wurden, beendet worden. Seither gehört die Siedlung St. Stephan zu Griesheim.
Im Hausweg kann man die „Grenzlage“ nur noch daran erkennen, daß die „Griesheimer“ Häuser eine traditionelle giebelständige Ausrichtung haben, während auf der Darmstädter Seite eine städtischere traufständige Anordnung der Häuser bis heute im Bebauungsplan vorgeschrieben ist.
ich bin im Hausweg aufgewachsen und habe den Beitrag mit großem Interesse gelesen. Hat mir sehr gut gefallen