Der Bundesinnenminister hat jüngst erklärt, die Migration sei die Mutter aller Probleme. Wenn das stimmte, dann müsste Griesheim der unglücklichste Ort auf Erden sein. Denn da davon auszugehen ist, dass die Menschheit nicht im Griesheimer Stadtgebiet entstanden ist, müssen alle heutigen Einwohner oder deren Vorfahren zugezogen, also migriert sein. Viele kamen dabei nicht nur aus Nachbarorten wie Darmstadt oder gar Wolfskehlen, sondern von viel weiter her.
Vorgeschichte
Schon vor vielen Jahrtausenden sind Menschen auf dem heutigen Stadtgebiet aufgetaucht, wie ein 200.000 Jahre alter gefundener Faustkeil zeigt. Wo seine Besitzerin oder sein Besitzer herkam, weiß man nicht, vermutlich wird er oder sie aber weiter gezogen sein. Da das Wetter in Griesheim damals recht kühl war – schließlich befand man sich damals mitten in einer Eiszeit (genau gesagt, der Riß-Kaltzeit) – konnte man hier nicht siedeln.
Erst mit dem Beginn der aktuell andauernden Warmzeit vor etwa 12.000 Jahren änderte sich das. Menschen konnten sich nun dauerhafter niederlassen, sesshaft werden und Ackerbau- und Viehzucht betreiben. Gefundene Scherben der Bandkeramiker belegen so die Anwesenheit von Menschen im 6. Jahrtausend vor Christus. Die Bandkeramiker wurden nach den für sie typischen Verzierungsmustern auf Töpferwaren benannt. Sie sind aus dem heutigen Ungarn eingewandert, stammten aber ursprünglich aus Anatolien und vielleicht sogar dem Vorderen Orient.
Abgelöst wurden diese Menschen einige Jahrtausende später. Funde der Rössener Kultur, der Michelsberger Kultur und anderer jungsteinzeitlicher Gruppen belegen eine Besiedlung des Stadtgebietes im 4. und im 2. vorchristlichen Jahrtausend. Das Siedlungsgebiet dieser Kulturen reichte insgesamt von Frankreich und der Schweiz bis nach Ostdeutschland.
Nahe des Wasserwerkes wurden 1926 die sterblichen Überreste eines Menschen gefunden, der im 19. Jahrhundert vor Christus lebte. Er gehörte der Glockenbecherkultur an, die sich wieder durch die besondere Art der Töpferwaren charakterisierte und ihre Toten in Hockstellung beerdigte. Der Ursprung dieser Kultur liegt möglicherweise im heutigen Spanien und Portugal.
Antike
Aus der Bronzezeit und der Eisenzeit sind verschiedene Siedlungsspuren im Griesheimer Bereich bekannt. Im ersten Jahrhundert vor Christus gewannen dabei die Kelten, auch Gallier genannt, die Oberhand. Diese heterogene Volksgruppe, die weite Teile Europas und die heutige Türkei besiedelte, kannte Techniken wie die Metallverarbeitung und legte stadtartige Siedlungen an. Man unterscheidet verschiedene Epochen über mehrere Jahrhunderte.
Archäologisch ist vor dem Jahr 0 ein Bruch zu erkennen. Möglicherweise waren zeitweise alle Menschen aus Griesheim abgewandert. Tacitus berichtet erst im Jahr 98 n. Chr., dass die Gebiete östlich des Rheins von abenteuerlustigen Galliern besiedelt sei. Vor einigen Wochen hatte ich hier genaueres dazu geschrieben. Aus der gleichen Zeit finden sich z.B. im Bereich Groß-Gerau Spuren der Sueben, einem germanischen Stamm, der um diese Zeit aus dem heutigen Ostseeraum eingewandert war, wohl mit Zustimmung der Römer.
Die Römer wurden in unserer Region im 1. Jahrhundert nach Christus immer dominanter, spätestens mit dem Bau des Limes um das Jahr 100 n. Chr. wurde das heutige Griesheimer Stadtgebiet in das Römische Reich einbezogen. Das Zentrum der römischen Kultur lag in Italien und Griechenland, das Reich umfasste aber zeitweise den gesamten Mittelmeerraum und Westeuropa. Aus all diesen Gebieten kamen Verwaltungsbeamte, Händler und vor allem Soldaten in unsere Region. Nach dem Ablauf eines 25-jährigen Militärdienstes erhielten diese ein Stück Land zur Bewirtschaftung. So wurde das heutige Südhessen systematisch besiedelt. Entlang der römischen Straßen und in fruchtbaren Gebieten wurden in festgelegten Abständen landwirtschaftliche Güter angelegt, die von einer Familie und zahlreichen Bediensteten und vielleicht auch Sklaven betrieben wurden, so auch in Griesheim. Dörfer und stadtartige Siedlungen gab es dagegen nur wenige (z.B in Groß-Gerau).
Im 3. Jahrhundert mehrten sich Überfälle auf das heutige Südhessen. Germanische Gruppen aus östlicheren Gebieten überwanden immer öfter die römische Grenze. Dabei handelte es sich um wild zusammengesetzte Haufen, die mordend und plündernd durch die Lande zogen. Der Einfall der Alemannen (Kampfname von „alles Mannen“) um 260 beendete die Präsenz des Römischen Staates in Griesheim. Das Konzept der Errichtung einer starren Grenze zur Unterbindung der unkontrollierten Einwanderung in das römische Reiche hatte sich als nicht tragfähig erwiesen. Stattdessen hatte es für einen gewissen Rückstau gesorgt, der die Überwindung der Grenze nur noch verheerender werden ließ.
Die Eroberer ließen nicht nur verbrannte Erde zurück, teilweise übernahmen sie das Land der Römer dauerhaft. Eventuell sind vereinzelt auch Reste der römischen Bevölkerung unter den neuen Herrschern, den Alemannen, verblieben. Diese dominierten im Griesheimer Raum wie auch im gesamten Südwesten des heutigen deutschen Sprachraumes für die nächsten Jahrhunderte.
Weiter nordwestlich lag zu dieser Zeit das Gebiet der Franken. Ähnlich wie die Alemannen waren sie ursprünglich aus einem wild zusammengesetzten Haufen entstanden (Franken = die „Freien“). In den ehemals römischen Gebieten Westdeutschlands, in Belgien und im späteren Frankreich (das nach ihnen benannt wurde) bildeten sie ein neues Staatsgebilde, das benachbarte Territorien zu unterwerfen versuchte. Bei den Alemannen gelang dies im Jahr 496 nach langen Auseinandersetzungen; zeitweise lief die Grenze zwischen beiden Stämmen wahrscheinlich mitten durch das Rhein-Main-Gebiet. Mit dem Sieg übernahmen die Franken die Kontrolle auch über Griesheim. Die im Bereich Rückgasse gefundenen Grabstätten gehörten zu einem oder mehreren Höfen, in denen fränkische Ritter in Friedenszeiten Landwirtschaft betrieben. Der Name Griesheim geht möglicherweise auf die Franken zurück.
Mittelalter
Im Laufe des Mittelalters vermischten sich im heute südhessischen Raum die Nachfahren der Kelten, der Römer, der Alemannen und der Franken. Einen speziellen neuen Namen gab man sich hier, anders als in Bayern, nicht. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl gab aber die gemeinsame deutsche Sprache, die die lateinische Sprache und keltische Sprachen verdrängt hatte.
Innerhalb des aus dem fränkischen Staat entstandenen Kaiserreiches gab es einen regen Bevölkerungsaustausch, der über viele Jahrhunderte andauerte. Neu gegründete Städte führten zu einem Zuzug von Siedlern aus weit entfernten Landesteilen, aber auch der direkten Nachbarschaft. Dies galt nicht nur für die Gebiete östlich der ehemaligen Grenze des römischen Reiches, in denen es im frühen Mittelalter noch so gut wie keine Städte gab. Das galt auch für das sogenannte Altsiedelland (also innerhalb der ehem. römischen Grenzen), in denen bisher nicht erschlossene Gebiete wie der Odenwald besiedelt, aber auch viele Städte neu gegründet wurden. Die Siedler müssen natürlich irgendwo hergekommen sein. In der bekannten Sage des Rattenfängers von Hameln kann die Erinnerung daran stecken, wie sehr manche Gebiete unter dem Wegzug ganzer Bevölkerungsschichten zu leiden hatten.
Inwieweit Griesheim im Mittelalter von solchen Siedlungsbewegungen betroffen war, ist nicht dokumentiert. Neue Stadtgründungen auch in der Nähe Griesheims, wie Dieburg (13. Jahrhundert), Darmstadt (1330) und die Frankfurter Neustadt (1333) könnten zu Abwanderungen geführt haben, ebenso könnte die denkbare Neuanlage Griesheims Siedler auch angelockt haben. Wo diese her stammten ist unbekannt, die Aufgabe von benachbarten Orten wie Otterstatt, Breitenloe und Haselaha könnte aber damit im Zusammenhang stehen.
Erst seit 1479 gehört Griesheim zu Hessen. Dessen ursprüngliches Gebiet lag im Bereich rund um Marburg und hatte sich kontinuierlich ausgedehnt. Die Vorfahren der Menschen dort gingen teilweise auf den germanischen Stamm der Chatten zurück. In Griesheim hatten diese aber nie Fuß gefasst.
Neuzeit
Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) brachte für Griesheim schlimmstes Unglück. 1635 lebten zeitweise nur noch 37 Menschen im Ort. Die Wiederbesiedlung dauerte lange, sodass 1688 nur 300 Einwohner gezählt wurden. Dies spricht dafür, das es in der Zeit kaum Zuzug von außen gab (woher auch, weite Teile der Länder waren ebenfalls zerstört). In Hessen später angesiedelte Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, Italien und Belgien kamen wohl nicht nach Griesheim, auch die Pariser Gasse steht damit wohl nicht in Zusammenhang.
Im 17. und im 18. Jahrhundert lebten wenige Juden in Griesheim. Die kleine Gemeinde wuchs bis 1895 auf 195 Menschen an, um danach wieder kleiner zu werden. 62 Einwohner jüdischen Glaubens hatte Griesheim 1933. Von diesen starben sieben noch vor Ort, alle anderen flüchteten, wurden vertrieben oder/ und ermordet, sodass die jüdische Gemeinde zu existieren aufhörte.
1693 verlegte der hessische Landgraf Teile eines Dragonerregimentes nach Griesheim, das bei Privatleuten untergebracht werden musste. Die Soldaten wurden wahrscheinlich in der ganzen Region und anderen hessischen Landesteilen geworben. Einige von ihnen gründeten in Griesheim Familien.
Spätestens das Ende der Napoleonischen Kriege 1815 brachte eine Neuorganisation des hessischen Staates mit sich. Immer mehr Menschen fanden Arbeit als Beamte. Diese konnten im Laufe ihrer Laufbahn versetzt werden. Auch im Bereich der Eisenbahn und der Post kamen so erstmals in größerer Zahl Menschen von auswärts aus beruflichen Gründen nach Griesheim (vorher vielleicht nur Lehrer und der Pfarrer). Mit der Reichsgründung 1871 beschränkten sich diese Bewegungen nicht mehr nur auf Hessen, sondern das gesamte Deutsche Reich. Auch die beginnende Industrialisierung sorgte für ein Bevölkerungswachstum. Viele der zugezogenen neuen Bewohner blieben für immer in Griesheim.
Nicht zu unterschätzen ist außerdem der Einfluss des Schießplatzes auf die Entwicklung von Griesheim.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges löste größere Flüchtlingsbewegungen aus. So wurden im damaligen Jugoslawien (heute Serbien) und in Ungarn zahlreiche Donauschwaben vertrieben. Sie siedelten sich in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands an, so auch im Darmstädter Raum. Für sie wurde eine neue Siedlung – Sankt Stephan – angelegt. Die Donauschwaben waren Siedler, die von den Österreichern vom 17. bis 19. Jahrhundert im damaligen Ungarn angesiedelt wurden, ursprünglich stammten sie aus Lothringen, dem Elsass, der Pfalz, der Schweiz und aus Schwaben.
Moderne
Das Wirtschaftswunder im Deutschland der 1950er Jahre schuf so viele Arbeitsplätze wie nie zuvor. Schnell wurde klar, dass man einen Zuzug von Arbeitnehmern aus dem Ausland brauchte, um die Nachfrage der Wirtschaft zu befriedigen (immer wichtig). Man warb sogenannte Gastarbeiter aus Ländern wie z.B. der Türkei, Italien, Jugoslawien, Spanien, Portugal und Griechenland an. Anders, als man sich das ursprünglich dachte, blieben die meisten von diesen Menschen für immer hier, tausende von ihnen sind Griesheimer geworden.
Der sich entwickelnde Wohlstand sorgte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dafür, dass sich die Menschen immer mehr Wohnraum leisten konnte. Die Nachfrage nach Einfamilienhäusern, aber auch das immer teurer werdende Wohnen in den Großstädten sorgte für einen stetigen Zuzug in Griesheims Neubaugebiete. Auch die zeitweise recht hohe Unattraktivität der Städte in den 1970er Jahren ließ die Menschen ins Grün abwandern, solange dieses nahe genug an den wirtschaftlichen Zentren lag. Zehntausende Menschen sind so in den letzten Jahren nach Griesheim gekommen, zum Teil geblieben und zum Teil wieder abgewandert. High-Tech-Standorte in Darmstadt und die Universität begünstigen dies.
Die anhaltende wirtschaftliche Attraktivität des Rhein-Main-Gebietes, von dem Griesheim ein Teil ist, sorgt aktuell dafür, dass dieser Prozess weiter läuft. Eine mobiler werdende Gesellschaft in Deutschland und Europa mit immer schwächer werdender Bindung an den Herkunftsort sorgt für immer stärker werdende Binnenwanderungen.
Gleichzeitig ist ein Zuzug aus den restlichen Teilen der Erde zu verzeichnen. Die wirtschaftliche, soziale und politische Stabilität in Europa wirken äußerst attraktiv für Menschen in Regionen, die durch Klimawandel, Ausbeutung und Misswirtschaft in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen können. Dieser Prozess kann nicht (siehe Beispiel Limes, weiter oben) durch die Errichtung von Mauern gesteuert werden, sondern nur durch die Verbesserung der Lebensbedingungen in den benachteiligten Regionen der Erde.
Griesheim jedenfalls hat die heterogene Struktur seiner Bewohner nicht geschadet. Derzeit sind die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der Stadt zu verzeichnen, ebenso wie eine gut ausgebaute Infrastruktur, Bildungseinrichtungen und kulturelle Angebote.