Schildbürger der Gegend

1846 erschien ein „Handbuch für Reisende“ mit dem Titel „Darmstadt, der Odenwald, die Bergstraße und die Main-Neckar-Eisenbahn„. Das Werk war zum Anlass der wenige Jahre zuvor eröffneten Eisenbahnlinie von Frankfurt am Main über Darmstadt nach Heidelberg veröffentlicht worden. Es gab dem Reisenden allerhand Tipps für Besuche der Städte entlang der Strecke. Außerdem enthielt es Wandervorschläge zu Orten, die abseits der Bahn lagen. So gelangte auch Griesheim zu der Ehre, in dem Reiseführer erwähnt zu werden.

Auf Seite 34 findet man also folgende Beschreibung:

„Weniger einladend ist ein Spaziergang nach dem auf der Frankfurter Strasse, 1 St. weit entfernten Arheilgen; nach dem Tannenwald und dem 1 1/2 St. entlegenen Dorfe Griesheim pflegt man an trocknen und sonnigen Wintertagen sich zu wenden. Die Bewohner dieses Dorfes, fleissige und kluge Landleute, die bedeutenden Handel mit ihren Cultur-Erzeugnissen und Sämereien treiben, standen sonderbarer Weise lange Zeit im Rufe, die Schildbürger der Gegend zu sein. Auch in dem düstern Tannenwalde fehlt es nicht an Anlagen und Ruheplätzen; an dem sogenannten Griesheimer Haus stand ehedem ein Jagdschlösschen.“

In diesem kurzen Textfetzen blitzen verschiedene historische Gegebenheiten auf, die Griesheim vor 1850 tatsächlich geprägt haben:

Tannenwald – Der Wald zwischen Griesheim und Darmstadt trägt in alten Karten die Bezeichnung „Die Tanne“. Die Siedlung Tann, zwischen beiden Städten gelegen, nimmt darauf Bezug. Wirklich düster kann es dort aber nicht gewesen sein. Der Wald erstreckt sich über ein Sanddünenfeld, das aufgrund seiner geringen Fruchtbarkeit und dem schnell versickernden Wasser eine dichte Vegetation gar nicht zulässt. Vielleicht rührt die Beschreibung „düster“ noch von alten Hexengeschichten her. Mitte des 19. Jahrhunderts müssen aber entlang der Chaussee von Darmstadt nach Griesheim noch einige Anlagen und Ruheplätze vorhanden gewesen sein, die ursprünglich aus der Barockzeit stammten.

Das Sammeln von Samen war eine recht gefährliche Angelegenheit.

Sämereien – Die Wälder rund um Griesheim und die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschende Armut ließen eine ganz besondere Wirtschaftsform entstehen: Den Samenhandel. Am Anfang wagten sich Wagemutige bzw. Verzweifelte mit recht primitiven Kletterwerkzeugen auf die Tannen und Kiefern und ernteten dort die Samen der Bäume. Dafür gab es eine wachsende Nachfrage – im 19. Jahrhundert setzte sich eine rationalisierte Form der Waldbewirtschaftung durch, die es auch erforderte, ganze Wälder neu anzupflanzen – dafür waren natürlich viele Samen erforderlich. Gleichzeitig gab es eine Nachfrage nach Samen von Kräutern, die in den Griesheimer Dünen wuchsen. Auch diese sammelte man. Mit der Zeit bildeten sich drei größere Handelshäuser heraus, die mit heimischen und auch fremden Samen zu handeln begannen. Verblieben ist davon bis heute die Firma Appel, die eine Baumschule zwischen Griesheim, Darmstadt und Pfungstadt betreibt.

Parforcejagd an der Dianaburg. Gemälde von 1768 von Georg Adam Eger. Quelle: wikipedia

Griesheimer Haus – Beim Griesheimer Haus handelte es sich um ein kleines Jagdschloss, das östlich von Griesheim und südwestlich von Darmstadt bestand. Es wurde 1713 erbaut und stürzte schon 1736 ein, weil es vermutlich aus Holz konstruiert war. Ein Ersatzbau, Louisbourg genannt, bestand von 1740 bis ungefähr 1770. Wie die beiden Bauten aussahen, kann nicht genau gesagt werden, da die erhaltenen Pläne widersprüchlich sind und die bekannten Ansichten erst von Künstlern erstellt wurden, die nach 1770, also nach dem Abbruch des Hauses, geboren wurden. Vielleicht hat der zweite Bau der in der gleichen Zeit erstellten Dianaburg bei Arheilgen ähnlich gesehen. In Griesheim erinnert übrigens noch der Straßenname Hausweg an das Gebäude, Mitte des 19. Jahrhunderts, als obiger Reiseführer geschrieben wurde, bestand nur noch ein Holzpavillon, die Erinnerung an das Jagdhaus war aber offensichtlich noch wach.

Schildbürger – Die Bezeichnung Schildbürger für die Griesheimer rührte aus einer angebliche Begebenheit, die sich im 18. Jahrhundert zugetragen haben soll. Dabei entdeckten die Griesheimer im Gemeindewald einen Kuckuck, fingen den seltenen Vogel ein und brachten ihn zum Landgrafen. Dieser war hocherfreut und bat die Griesheimer auch um das Nest des Vogels. Sogleich machte man sich auf die Suche, die natürlich erfolglos blieb. Denn was die Griesheimer offensichtlich nicht wussten – der Kuckuck legt keine eigenen Nester an, sondern jubelt seine Eier anderen Vögeln unter. Um aber gegenüber dem Landgrafen keine Blöße zu zeigen, erklärte man kurzerhand, der ganze Wald sei das Nest des Kuckucks – er sei dort überall zu Hause. Mit dieser Erklärung traute man sich zum Landgrafen, und der war noch erfreuter als beim ersten Male. Denn die Griesheimer hatten ihm ja das „Nest“ versprochen. So wechselte also der ganze Wald den Besitzer und die nun waldlosen Griesheimer wurden zum Gespött der ganzen Gegend.

Heute ist das zum Glück ganz anders. Heute treffen die Griesheimer keine gedankenlosen Entscheidungen mehr, die die Zukunft und den Wohlstand des Ortes gefährden. Nein. Gibt es ein Problem oder stellen sich neue Fragen, dann werden alle zur Entscheidung nötigen Fakten gewissenhaft zusammengetragen und alle möglichen Alternativen werden untersucht – streng nach wissenschaftlichen Gepflogenheiten. Experten werden wie selbstverständlich eingebunden. Bauchentscheidungen – das gibt es nicht mehr.  Vorschläge ablehnen, nur weil die von der Opposition kommen – die Zeiten sind ja wohl vorbei. Und Walversprechen – die hält man wie selbstverständlich auch ein (2:49).

Ein Glück, das in Griesheim heute alles besser geworden ist.

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