Zwischen 1960 und 1976 hatte Griesheim eine eigene Straßenbahnlinie: Die Linie 9A. Sie pendelte zwischen der Wagenhalle und der Endhaltestelle Schule (heute Platz-Bar-le-Duc) und war nur ca. 695m lang. Damit dürfte sie die kürzeste Straßenbahnlinie Deutschlands gewesen sein. Doch wie kam dieses Kuriosum zustande?
Die Straßenbahn gibt es in Griesheim seit dem 25. August 1886. An diesem Tag wurde sie als Dampfbahnlinie eröffnet. Sie führte vom Darmstädter Schloss aus immer entlang der „Chaussee“ bis nach Griesheim und endete an einem kleinen Bahnhof, der sich auf der Fläche des heutigen Georg-Schüler-Platzes befand.
Aufgrund der Folgen des Ersten Weltkrieges (Wirtschaftliche Schwierig-keiten, Französische Besatzungsgrenze zwischen Darmstadt und Griesheim) wurde der Bahnbetrieb auf der Dampfbahnstrecke am 31.3.1922 eingestellt. Mehr als vier Jahre lang ruhte der Verkehr auf der Trasse.
Erst im Oktober 1926 fuhren wieder Bahnen entlang der Chaussee, allerdings nicht mehr im Dampfbetrieb. Die Strecke war nämlich zuvor elektrifiziert worden. Einige Tage später, am 30.11.1926 wurde dann eine kleine Streckenverlängerung in Betrieb genommen. Die elektrischen Straßenbahnen der seit damals als „9“ bezeichneten Linie fuhren nun bis zur Haltestelle Gemeindehaus (später „Schule“, heute „Platz Bar-le-Duc“). Dieser westliche Abschnitt der Bahnlinie ist also nie von Dampfbahnen befahren worden. Da zum Zeitpunkt der Errichtung der Bahnschienen dieser Abschnitt der Chaussee schon beidseits bebaut war, wurde das Gleis auf der Straße, neben dem nördlichen Gehweg verlegt. Die Trasse der älteren Dampfbahnstrecke lag damals außerhalb der Ortschaft, dieser Abschnitt lag daher (und liegt heute immer noch) in Seitenlage neben der Straße.
Der alte Dampfbahnhof auf dem Georg-Schüler-Platz wurde abgebrochen und durch eine Grünanlage ersetzt, die im Prinzip bis heute existiert. Als Ersatz für den Bahnhof wurde 1928 die Wagenhalle eingeweiht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Strecke nach Griesheim Stück für Stück modernisiert. Ab 1948 begann auf Darmstädter Gebiet der zweigleisige Ausbau der Strecke, bis 1966 wurde die Trasse so bis zur Griesheimer Herweghstraße ausgebaut. Erst 1976 baute man das Stück bis zur Wagenhalle zweigleisig aus.
Weitreichende Folgen für Griesheim hatte aber folgende Entscheidung der HEAG, des Straßenbahnbetreibers: 1961 wurden die ersten modernen Gelenktriebwagen in Betrieb genommen. Diese Fahrzeuge hatten aufgrund ihrer Länge nicht nur eine deutlich höhere Kapazität an Sitz- und Stehplätzen als die bisherigen kurzen zweiachsigen Fahrzeuge. Sie waren auch als Einrichtungsfahrzeuge konzipiert. Konnten die Triebwagen der HEAG bisher aufgrund der Steuerstände an beiden Wagenenden in beide Richtungen fahren, konnten die neuen Gelenkwagen nur in eine Richtung gefahren werden: Sie hatten nur noch einen Steuerstand und die Türen waren nur auf einer Seite (in Fahrtrichtung rechts) angeordnet. Durch diese Maßnahme konnten die Fahrzeuge wirtschaftlicher hergestellt und betrieben werden.
Allerdings benötigte man nun an jeder Endstation eine Wendeschleife, die entsprechend Platz beanspruchte. In Griesheim war dieser an der Endhaltestelle Schule nicht vorhanden. Die HEAG baute deshalb 1960 zunächst eine Wendeschleife rund um die Wagenhalle. Die Fahrzeuge der Linie 9 wendeten dort von Darmstadt aus kommend und fuhren Richtung Darmstadt zurück, ohne wie zuvor das Griesheimer Zentrum zu befahren. Um dort hin zu gelangen, wurde eine Pendellinie eingerichtet, die die Bezeichnung „9A“ erhielt. Sie fuhr von der Wagenhalle aus das etwa 695m lange restliche Teilstück bis zur Haltestelle „Schule“.
Während auf der Linie 9 größtenteils die modernen Gelenkbahnen zum Einsatz kamen, fuhren auf der 9A Vorkriegsfahrzeuge der Baureihe ST4. Diese Fahrzeuge waren bereits 1929 in Betrieb gegangen. Die Veteranen hatten aber einen entscheidenden Vorteil: Sie waren noch als Zweirichtungsbahnen gebaut worden. An den beiden Enstationen Wagenhalle und Schule genügte es deshalb, das Fahrzeug anzuhalten und in die entgegengesetzte Richtung zurückzufahren. Der Fahrer musste dazu lediglich zum anderen Ende der Bahn gehen und dort die Steuerung übernehmen. Eine Wendeschleife war nicht nötig, das Gleis an der Schule endete deshalb stumpf.
Die heutige Zwischenhaltestelle „Hans-Karl-Platz / Am Markt“ gab es damals nicht, angehalten wurde nur an den beiden Endstationen. Stationiert waren die Fahrzeuge, die man für die Linie 9A brauchte, in der Griesheimer Wagenhalle. Zum Betrieb selbst wurde immer nur ein Fahrzeug gleichzeitig benötigt. Meist war dies der Wagen mit der Betriebsnummer 68 aus der Bauhreihe ST4, aber auch der Wagen 61 aus der Reihe ST3.
Zwischen den Hofmannstraße und der Schützenstraße fuhr die Linie 9A, anders als heute, auf der Straße selbst, und zwar auf der nördlichen Fahrbahn. Da die Strecke eingleisig war, bedeutete das, dass in Richtung Westen fahrende Bahnen auf der „richtigen“ Fahrspur fuhren und mit dem PKW- und LKW-Verkehr mitschwimmen konnten. In der Gegenrichtung sah das anders aus. Hier mussten sich die Bahnen auf der „falschen“ Straßenseite gegen den entgegenkommenden Verkehr auf der Straße durcharbeiten. Natürlich kam es hier zu vielen gefährlichen oder zumindest schwierigen Situationen, die durch den damals ziemlich schmalen Gehweg nicht gerade vereinfacht wurden.
Vom Dezember 1975 bis zum April 1976 wurde die Linie 9A eingestellt. In der Zeit wurden im Bereich der „Schule“ zahlreiche Gebäude abgebrochen, die zum Teil aus heutiger Sicht Denkmalwert hatten: Verloren gingen so die namensgebende „Alte Schule“ die viele Jahre als Rathaus bzw. Gemeindehaus gedient hat, ebenso wie einige Nebengebäude des Schulkomplexes und auch das alte Feuerwehrgebäude. Nur das heute „Kochschule“ genannte Haus entging den Abrissbirnen, erhielt aber eine Aufstockung, bei der die schönen Renaissancegauben und die Giebel im „Schweizer Stil“ verloren gingen.
Grund für den Abbruch war die Anlage einer Wendeschleife auf dem ehemaligen Schulgelände. Die entstandene Freifläche wurde als Grünanlage mit Brunnen und vielen Bäumen gestaltet und schließlich nach der französischen Partnerstadt Griesheims Platz Bar-le-Duc genannt. Diesen Namen hat die Haltestelle übernommen. Für die Fahrgäste wurde ein Unterstand mit Kiosk geschaffen, der auch sanitäre Räume für die Fahrer beinhaltete.
Die Linie 9A verkehrte zwischen April 1976 und dem 25.9.1976 letztmals. Dann wurde die Wendeschleife feierlich eingeweiht. Ab dem 26.9.1976 übernahmen die Gelenkbahnen der Linie 9 wieder die gesamte Griesheimer Strecke. Durch großflächige Abbruchmaßnahmen zwischen dem Platz Bar-le-Duc und dem Georg-Schüler-Platz konnte in den 1980er und Anfang der 1990er Jahren schließlich die Trassenführung der Straßenbahn in diesem Bereich so verändert werden, dass die Bahnen seitdem auf einem eigenen Trassee abseits der Straße unabhängig verkehren können.
Obwohl die Linie 9A nur 16 Jahre in Betrieb war, ist sie vielen Griesheimer in Erinnerung geblieben. Der „Pendler“, wie die Bahn auch genannt wurde, hat sich durch seine urigen Fahrzeuge und die kuriose Streckenführung in die Gedächtnisse eingebrannt. Aber auch unter Straßenbahnfans ist die Linie immer noch ein Begriff. Aufgrund ihrer nur 695m Länge wird sie die kürzeste Straßenbahnlinie Deutschlands gewesen sein. Den Titel der kürzesten Straßenbahnlinie der Welt hat sie knapp verpasst. Diese Ehre gebührt dem Riffelalptram in den Schweizer Bergen – dieses ist mit 675m etwa 20 Meter kürzer.
Übrigens gibt es in Griesheim neben der kürzesten Straßenbahnlinie noch andere Rekorde zu vermelden. Es gibt hier noch: