Goethes Bootsfahrt am Gehaborner Hof

Die vermutlich bedeutendste Persönlichkeit, die je in Griesheim war, hat die Stadtgrenze auf außergewöhnliche Weise überquert: mit dem Boot. Machen Sie das erstmal nach!

Kein Werk über die Stadtgeschichte ist perfekt, wenn es nicht gelingt, den Aufenthalt eines historisch bedeutsamen Menschen in der Stadt zu erwähnen. Solche Persönlichkeiten haben aber vor langer Zeit gelebt. Damals war das Reisen schwierig, dementsprechend ist man weniger herum gekommen als die meisten von uns heute. Goethe beispielsweise war zwar in Sizilien, in Rom und natürlich in Frankfurt, niemals aber an der Nordsee, in Wien oder Paris. Glücklicherweise, und da kommen wir zum Ausgangspunkt zurück, näherte er sich bis auf wenige Meter der heutigen Stadtgrenze Griesheims. Womöglich hat er sie auch überschritten (bzw. überfahren), und zwar kurioserweise mit dem Boot.

Nordöstlich von Griesheim, hinter dem Wald, liegt der Gehaborner Hof. Seine Ursprünge sind nicht wirklich bekannt. Ein in der Nähe gefundener römischer Gedenkstein mag auf eine in der Nähe verlaufende Römerstraße hinweisen (mehr dazu hier). Erstmals erwähnt wird der Gehaborner Hof aber erst im Mittelalter als „Gebenbrunnen“ im Jahre 1163.

Über die Herren von Dornberg gelangte das Anwesen an das Kloster Eberbach, das den Hof als Grangie in sein Wirtschaftssystem aufnahm (dazu bald mal mehr). 1578 brachte der Landgraf von Hessen-Darmstadt den Hof in seinen Besitz und ließ ihn befestigen. Spätestens zu diesem Anlass wurden dreiseitig Wälle und alsseitig Gräben angelegt.) Die Gräben wurden vom Darmbach, der selbst an der Südfront des Hofes vorbeifließt, gespeist.

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Historischer Lageplan des Gehaborner Hofes von 1767. Gut zu erkennen ist der Wall an drei Seiten des Hofes und der umlaufende breite Wassergraben. Der Darmbach war südwestlich aufgestaut worden. Den Zugang von Osten bildete eine Brücke und ein Torgebäude. Bildquelle: Kristof Doffing / Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, s. unten. Der Plan wurde – anders als die Vorlage – genordet.

Heute ist der Darmbach an dieser Stelle noch vorhanden. längst durchfließt er aber keinen Wallgraben mehr: er ist eingezwängt in enge und steile Böschungen und bildet hier die Stadtgrenze. Während der historische Hof selbst auf Weiterstädter Gebiet liegt, ist das modernere Gebäude südlich des Baches bereits Teil von Griesheim.

An die ehemals wassergefüllten Gräben erinnert auf der Südseite und vor allem auf der Ostseite nichts mehr. Hier wurde auch der Wall eingeebnet. Auf der Nordseite und der Westseite hingegen ist er noch erhalten, ebenso der nun trocken liegende Graben. Durch den starken Bewuchs ist das von der stark befahrenen vorbeiführenden Straße jedoch nicht zu erkennen.

Ende des 18. Jahrhunderts war das anders. Damals lag der Gutshof noch recht einsam da. Offensichtlich bot er sich deshalb als Ausflugsziel für die Darmstädter Bevölkerung an. Damals lebte in Darmstadt der Apotheker Johann Heinrich Merck, dessen Nachfahren die heute bekannte Firma gründeten. Er war befreundet mit dem damals noch jungen Johann Wolfgang Goethe aus Frankfurt, der gelegentlich zu Fuß (!) nach Darmstadt kam, um Merck einen Besuch abzustatten.

Zum Freundeskreis gehörte auch Karoline Flachsland, die Verlobte Johann Gottfried Herders. Ihm berichtete sie am 13.4.1773 per Brief vom Besuch am Gehaborner Hof:

„Unser Freund Goethe ist zu Fuß von Frankfurt gekommen und hat Merck besucht. Wir waren alle Tage beysammen und sind in den Wald zusammen gegangen und wurden auch zusammen durch und durch beregnet; wir liefen alle unter einen Baum und Goethe sang uns ein Liedchen. (…) Wir sind darauf auf dem Wasser gefahren, von dem ich Ihnen neulich gesagt, es war aber rauh Wetter.“

Mit „neulich“ wird auf einen Brief vom 6.4.1773 verwiesen, in dem Karoline Flachland Herder schrieb:

„Waren Sie die zwei letzten Frühlingstage, gestern und vorgestern auch so vergnügt, daß unsere Seelen sich begegnet sind? Ich habe lange nicht so schön gelebt wie ehegestern. Ich bin zum ersten Mal auf dem Wasser gefahren, und denken Sie, wie mir auf dieser hellen glänzenden Fläche war! Es war auf einem einsamen Meierhof im Wald, wo ringsum ein Graben und Wasser war.“

In unserer heutigen schnelllebigen Zeit, in der wir fast überall hinkommen können oder uns wenigstens virtuell jeden Platz dieser Erde am Rechner oder auf dem Telefon anschauen können, und in der uns alle Möglichkeiten der Freizeitgestaltung offen stehen, können wir über die Worte von Karoline Flachsland wahrscheinlich nur schmunzeln. Dabei ist es ein bißchen schade, dass man sich nicht mehr an solchen Dingen wie einer einfachen Bootsfahrt auf einem Graben so freuen kann, wie das 1773 wohl noch möglich war…

Schade ist auch, dass der Gehaborner Hof seit einigen Jahren leer steht. Als Ausflugsziel taugt er derzeit nicht, immer wieder wird aber seitens des heutigen Besitzers, der Stadt Darmstadt, versucht, daraus ein solches zu machen: Schon oft war ein Hotel oder ein Golfclub im Gespräch, die dem Gebäude wieder Leben einhauchen sollen. Grund der Überlegungen ist aber leider nicht, der Menschheit hier etwas Gutes zu tun oder an die Tradition des 18. Jahrhunderts anzuknüpfen. Nein, die Stadt Darmstadt möchte den Hof möglichst gewinnbringend loswerden, um die Stadtkasse aufzufüllen. Je länger der Hof jedoch unbenutzt herumsteht, umso unwahrscheinlicher wird die Möglichkeit, ihn als das zu nutzen, wofür er vor über 800 Jahren erbaut wurde: Als landwirtschaftlicher Betrieb. Meiner Meinung nach wäre das aber angemessen.


Quellenangabe:

Magistrat der Stadt Darmstadt, Dr. Peter Engels (Red.): Gehaborn. 100 Jahre Stadtgut. Darmstadt 1997. Die Zitate stammen von Seite 7.

Die historische Karte stammt aus der Sammlung „Wilhelmstraße, Langen und Hessen“ von Kristof Doffing. Die Karte finden Sie unter diesem Link.

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