Das Griesheimer Stadtgebiet wurde einst von drei voneinander unabhängige Bahnstrecken erschlossen. Von ihnen ist bis heute nur noch die schmalspurige Straßenbahnstrecke erhalten. Anfang der 1990er Jahre wurden im Norden der Stadt der Rest der einstigen normalspurigen Bahnstrecke von Darmstadt über Griesheim nach Worms abgebaut.
Dass es aber noch eine dritte Eisenbahntrasse nach Griesheim gab, ist dagegen in Vergessenheit geraten.
Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, eine alte Topokarte aus den 1920er Jahren anzuschauen. Diese zeigt den Zustand der Stadt kurz nach dem ersten Weltkrieg. Aus Gründen des Urheberrechtes kann ich die Karte hier leider nicht zeigen, wohl aber eine Umzeichnung. Diese stammt aus dem „Griesheim-Atlas“ von Daniel Jünger:
Rot eingetragen sind die drei Schienentrassen, die Griesheim einst erschlossen. Von Interesse ist dabei der südöstliche Bereich. Die damaligen Militärflächen auf dem „Griesheimer Sand“ waren nach dem ersten Weltkrieg durch die französische Besatzung übernommen worden. Das Gelände hieß in den 1920er Jahren „Camp Général Barbot“. Von hier führte eine Bahntrasse (rot eingezeichnet) Richtung Osten.
Doch wo führte sie hin? Hier hilft der Blick in eine topographische Karte der 1930er Jahre weiter, die man auf den Seiten der Uni Greifswald im Internet finden kann. Diese zeigt zwar nicht die Eisenbahntrasse, wohl aber sind im Wald zwischen Griesheim und Darmstadt einige Geländeeinschnitte und Dämme mit „Alter Bahnkörper“ bezeichnet. Die Trassenführung lässt sich daher in einer modernen Karte (Quelle:Opentopomap) leicht weiter ergänzen:
Die Trasse muss östlich des Waldes einen Anschluss an die in Nord-Süd-Richtung führende Main-Neckar-Bahn von Darmstadt nach Heidelberg gehabt haben. Der Gleisbogen ist bis heute erhalten und diente bis vor einigen Jahren noch als Schienenanbindung für eine amerikanische Kaserne. Heute ist diese größtenteils durch eine Erweiterung der Fa. Döhler überbaut.
Welchem Zweck die Eisenbahnstrecke gedient hat, kann ich leider noch nicht genau sagen. Sicher ist, dass sie keinen zivilen Bahnverkehr befördert hat – dazu wären sicherlich einige Veröffentlichungen vorhanden. Alte Fahrplanbücher erwähnen die Strecke nicht. Ihr Anfang und ihr Ende führten durch militärisches Gelände. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass die Bahnlinie ausschließlich der Erschließung des Militärplatzes am Griesheimer Sand gedient hat.
In einer topographischen Karte von 1910 ist die Strecke noch nicht eingezeichnet. 1936 war sie dann schon nicht mehr eingezeichnet, bzw., wie oben dargestellt, als „alter Bahnkörper“. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Linie während des Ersten Weltkrieges (1914-1918) angelegt wurde um schnellere Truppenbewegungen oder Materialtransporte vom oder zum Griesheimer Militärplatz zu ermöglichen. Vielleicht haben die französischen Besatzungstruppen, die Anfang der 1920er Jahre in Griesheim stationiert waren, diese auch noch benutzt.
In den 1930er Jahren müssen die Gleise dann schon abgebaut worden sein – vermutlich im Zuge des Autobahnbaus. Die bereits in den 1920er Jahren geplante HaFraBa, die Autobahn von den Hansestädten über Frankfurt nach Basel kreuzte die Bahntrasse auf gleicher Ebene. Die Erstellung einer Brücke oder einer Unterführung wurde wohl als zu aufwendig erachtet. Die neue Autobahn bedeutete das Ende der Bahntrasse. Streng genommen hat die Bahnlinie St. Stephan also, dass ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, nie erreicht (der Titel dieses Artikels ist damit natürlich nicht ganz richtig, pardon).
Natürlich stellt sich die Frage, ob von der Trasse heute noch sichtbare Reste erhalten sind. Dazu schauen wir noch einmal in die Karte, um nachzusehen, wo sich ein Nachforschen vor Ort lohnen könnte:
Ganz im Westen (Abschnitt 1) liegt die Trasse im Bereich der Konversionsflächen, also der ehemaligen Militärflächen in Griesheim. Diese sind im Moment umzäunt und nicht zugänglich. Luftbilder deuten aber auch darauf hin, dass hier keine Reste zu sehen sind.
Durch den Autobahnbau in den 1930er Jahren und die Errichtung des Darmstädter Kreuzes ab den 1960er Jahren ist der anschließende Bereich (Abschnitt 2) völlig verändert worden. Im Feuerwehrhaus in Griesheim hängt ein Luftbild der Stadt, dass die Situation der Baustelle Ende der 1960er Jahre zeigt. Hier haben massive Erdbewegungen stattgefunden, die jegliche Reste der Bahntrasse beseitigt haben werden.
Gleiches gilt für den Abschnitt 3: Hier befindet sich heute ein künstlich aufgeschütteter Berg, der einmal eine Mülldeponie war. Und auch ganz im Osten (Abschnitt 5) werden keinerlei Spuren verblieben sein. Durch die Anlage des Gewerbegebietes um die Darmstädter Kleyerstraße wurde das ganze Gebiet dort auch nachhaltig verändert.
Es bleibt also nur der Abschnitt 4. Und dorthin hat heute, am 25.03.2017, eine Expedition stattgefunden. Manfred Alvarez Hernandez und ich haben heute diesen Abschnitt begangen. Die Fotos von unserer Exkursion sehen Sie hier:








Wie auf den Bildern leider recht gut zu sehen ist, deutet, von der Anlage der Trasse auf einem Damm bzw. in einem kleinen Geländeeinschnitt abgesehen, nichts mehr darauf hin, dass hier vor 90-100 Jahren Bahnbetrieb stattgefunden hat: Keine Gleise, kein Gleisbett, keine Infrastruktur wie Brücken oder Geländer.
Schade eigentlich…
Wenigstens bleibt aber folgender Gedanke: Die Konversionsflächen in Griesheim, deren verkehrliche Erschließung noch ziemlich ungeklärt ist, besaßen einmal einen Schienenanschluss. Vielleicht ist das ja ein Ansatz zur Lösung der zukünftigen Probleme.
Weitergehende Infos zu der Eisenbahnstrecke finden Sie auf der Homepage von Walter Kuhl.
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