Über den Landgraben
Das hessische Ried ist überaus wasserreich. Trotzdem kann man von dort leider nicht über plätschernde Bäche, lauschige Segelreviere und beeindruckende Meeresbuchten berichten. Das Ried erscheint ziemlich trockengelegt, vor allem an seinem östlichen Rand. Das war nicht immer so.
Bevor die Menschen das heutige Ried besiedelten war die Region nicht nur durch den Lauf des Rheines geprägt, sondern auch durch den Neckar. Dieser mündete nicht wie heute in Mannheim in den Rhein, sondern floss ab Ladenburg nach Norden. Erst bei Ginsheim mündete er dann in den großen Strom. Natürliche Begebenheiten änderten dann aber den Verlauf. In der für die heutigen Menschen fassbaren Vergangenheit waren es daher eher die kleinen Gewässer, die die Landschaft geprägt haben, zum Beispiel der Landgraben.
Als Beispiel soll hier eine Karte von 1850 dienen, die den Grenzbereich zwischen den heutigen Stadtgebieten von Riedstadt und Griesheim zeigt. Wichtigstes Gewässer war der Landgraben, der ungefähr mittig zwischen beiden Orten nach Norden verlief.

Der Landgraben ist heute zu großen Teilen nicht mehr zu sehen (s. Titelbild). Im Rahmen der Flurbereinigungen in den 1930er Jahren wurde er zugeschüttet. Damit endete eine Jahrhunderte alte Geschichte. Denn der Landgraben war (sein Namen verrät es ja bereits) kein natürliches Gewässer.
Ursprünglich flossen alle Bachläufe aus dem Odenwald und dem nördlich angrenzenden Hügelland in den ehemaligen Neckarlauf. Ausnahmen bildeten nur einzelne Gewässer, die in dem Sanddünenland zwischen Weiterstadt und Bickenbach versickerten. Der alte Neckarlauf transportierte diese Wassermassen nach Nordwesten zum heutigen Rhein bei Mainz.

Nachdem der Neckar bei Ladenburg seinen Lauf geändert hatte und nun direkt in den Rhein bei Mannheim floss, blieb der ehemalige Neckarlauf im hessischen Ried immer noch erhalten. Er wurde jetzt nur noch durch die oben erwähnten Bachläufe gespeist. Dementsprechend begann er immer mehr zu versumpfen und zu verlanden. In seinem Bett entwickelten sich dichte Wälder in ausgeprägten Feuchtgebieten.

Durch das geringe Gefälle im ehemaligen Flusslauf konnten sich die mitgebrachten Sedimente im Wasser leicht ablagern. Es entstanden so diverse Barrieren, die das Gewässer immer wieder aufstauten. Die Flächen neben dem alten Neckarlauf, die extrem fruchtbar sind, konnten aber aufgrund dieses Überflutungsrisikos nicht landwirtschaftlich genutzt werden.
Deshalb begann der Mensch schon früh, die von Ost nach West fließenden Bäche vor dem Eintritt in das ehemalige Neckarbett aufzufangen und in einem künstlichen, aber kontrollierbaren Gewässer nach Norden in Richtung des heutigen Groß-Geraus zu transportieren.
So entstand der Landgraben. Er verlief ursprünglich von Zwingenberg über Eschollbrücken, Griesheim nach Büttelborn, immer etwas östlich des Altneckarbettes.
Wann erste Vorläufer des Landgrabens angelegt wurde, ist nicht bekannt. Im Bereich von Büttelborn wurden angeblich archäologische Spuren einer Anlegestelle aus der Römerzeit entdeckt. Dies spräche dafür, dass die Römer den Graben nicht nur zu Entwässerungszwecken angelegt, sondern sogar als Transportweg genutzt hatten. Vorstellbar ist, das landwirtschaftliche Erzeugnisse aus dem Gebiet von Büttelborn, Wolfskehlen, Griesheim und Eschollbrücken in das römische Groß-Gerau transportiert wurden, wo es im Bereich der Fasanerie bzw. des Stadtteiles auf Esch eine stadtartige römische Siedlung gab. Diese war wiederum über einen vermutlich ebenfalls künstlich angelegten Kanal, der schiffbar war mit dem Rhein und damit mit der römischen Großstadt MOGUNTIACUM, dem heutigen Mainz, verbunden. Dieser Kanal ist noch heute existent und trägt ebenfalls den Namen Landgraben. Ob dieser Graben tatsächlich römischen Ursprunges ist wird in einem groß angelegten Projekt seit 2023 untersucht.

(Einen sehr interessanten Artikel über römische Boote, wie sie auch in Südhessen verwendet worden sein können, finden sie hier. Allerdings muss man sich den dargestellten Bootstyp natürlich ohne Segel vorstellen. Auf einem Kanal wurde getreidelt.)
Der Landgraben könnte in seinen südlichen Teilen vielleicht auch mittelalterlichen Ursprunges sein. Der Gutshof Gehaborn war ursprünglich eine Grangie (so eine Art Filiale) des Klosters Eberbach im Rheingau. Die dort ansässigen Zisterziensermönche besaßen die technischen Fähigkeiten, um Wasserbauten zu erstellen. Im Auftrag von verschiedenen Landesherren betätigten sie sich auch als Landentwickler und machten bis dahin nicht erschlossene Flächen nutzbar. Die Mönche von Eberbach werden eine gewisse Rolle auch bei der Ortsentwicklung der Region westlich von Darmstadt gespielt haben. Darüber hinaus waren sie an den Rohstoffen interessiert, die das Ried zu bieten hatte (Holz), aber auch an landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Die in Leeheim gelegenen Güter des Klosters lieferten Waren per Rheinschiff in den Rheingau. Vielleicht wurden Gehaborner Erzeugnisse über den Landgraben transportiert.
Sicher sind Arbeiten am Landgraben im 16. Jahrhundert unter dem hessischen Landgrafen in Darmstadt belegt. Dabei wurde auch ein besonderes Bauwerk westlich von Eschollbrücken angelegt, das wohl im Prinzip noch erhalten ist: Eine Kreuzung des Landgrabens mit der Sandbach, wobei die Sandbach den Landgraben über eine Brücke überquert sodass sich die beiden Gewässer gar nicht berühren.
Dies hat folgenden Grund: Die Sandbach ist ebenfalls ein künstliches Gewässer. Sie (ich bleibe hier mal bei dem hessischen Artikel „die“ statt „der Bach“) ist ein Entlastungskanal für die Modau und transportiert überschüssiges Wasser um Pfungstadt herum, um dieses vor Überschwemmungen zu schützen. Aus topographischen Gründen liegt die von Ost nach West fließende Sandbach etwas höher als der Landgraben. Diese Höhe wurde beibehalten. So kann die Sandbach Hochwässer aus dem Bereich Brandau / Ober-Ramstadt etc. direkt nach Westen zum Rhein weg transportieren, ohne das dieses Hochwasser in den Landgrabenbereich oder den Altneckar eingeleitet werden muss. Groß-Gerau und Büttelborn werden so vor den Modauhochwässern geschützt.
Das Brückenbauwerk ist auch in der alten Karte, die weiter oben abgebildet ist, zu sehen.
Ende des 18.Jahrhundert wurde der Landgraben auch wieder für Transportaufgaben genutzt. Nördlich des heutigen Burghofes gab es damals eine Ziegelei an seinem Ufer, deren Produkte mit Lastkähnen nach Norden verschifft werden konnten.

Im 19. Jahrhundert wurde allerdings offensichtlich, dass der Landgraben aufgrund seines geringen Gefälles nur sehr aufwendig zu unterhalten war. Ständig mussten der Graben freigeschaufelt werden. Aufgrund der Ebenheit der Landschaft konnten durch andere Verschaltungen der Gräben eine andere Art der Entwässerung der angrenzenden Gemarkungen hergestellt werden. Der Landgraben wurde nicht mehr benötigt und, wie oben bereits erwähnt, westlich von Griesheim in den 1930er Jahren zugeschüttet.
Nördlich und südlich der Griesheimer Gemarkung ist der Landgraben allerdings noch erhalten.
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